28. Kapitel

 

Lea hörte gedämpfte Stimmen, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Sie spürte, dass sie auf einem kalten Steinboden lag, und die Luft roch abgestanden und säuerlich. Sie wollte die Augen aufschlagen, aber ihr Kopf tat so weh, dass sie den Gedanken gleich wieder aufgab.

»Sie ist aufgewacht.«

»Ist sie nicht!«

»Armes Ding.«

Das Getuschel war immer lauter geworden.

»Bitte, mein Kopf!«, stöhnte Lea.

»Ah gut, du bist wach.«

Beim Klang dieser Stimme riss Lea erschrocken die Augen auf. Jaqueline kniete neben ihr, ein zufriedenes Lächeln auf den blutrot geschminkten Lippen. »Guten Morgen, Sonnenschein.«

»Ist es schon Morgen?«, sagte Lea. Sie war völlig desorientiert, ihr Mund war wie ausgedörrt, und ihr Schädel hämmerte, als würde ihn jemand mit Eispickeln bearbeiten. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, ihre Umgebung aufzunehmen. Überall Tische und Stühle - man hatte sie ein wenig gegen die Wände gerückt, vor und hinter ihr -, und war das dahinten nicht ein Bartresen? Spiegel über den Stühlen ... irgendwie passte das alles nicht zusammen. Und dieses Getuschel... wo waren all diejenigen, die so tuschelten?

»Nein, du dumme Gans, das ist nur so ein Ausdruck!«, sagte Jaqueline, erhob sich und klopfte ihr smaragdgrünes Abendkleid ab. »Du hast uns ganz schön Ärger gemacht, liebe Lea. Aber glücklicherweise weiß ich jetzt, wie du uns am Ende doch noch nützlich sein kannst. Ist das nicht toll?«

Lea versuchte zu begreifen, was sie da hörte, aber ihr Kopf hämmerte zu sehr.

»Wie bin ich hierhergekommen?«

»Ich habe dich getragen, Küken. Was gar nicht so leicht war, muss ich sagen. Du bist viel schwerer, als du aussiehst.«

»Ich verstehe nicht...«

»Nein, natürlich nicht! Aber keine Sorge, Diana ist nicht die Einzige, die große Enthüllungen machen kann.« Die Französin hob die Arme, klatschte in die Hände und tanzte wie ein Kind in dem großen Raum umher. Lea platzte bei dem Lärm fast der Schädel.

»Jetzt steh schon auf! Du willst doch dafür nicht am Boden rumliegen.«

Lea tat wie ihr geheißen. Dabei fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie mit dem Fußgelenk an einer kurzen, dünnen Kette hing, die an einem Ring im Boden festgemacht war.

Erschrocken zog sie an der Kette.

Jaqueline übersah es einfach.

»Willst du's von Anfang an hören oder sollen wir an einer Stelle einsetzen, wo was Interessantes passiert, wie zum Beispiel, als unser lieber Adam in der Stadt aufgetaucht ist?«

Lea beobachtete die Vampirin, die vollkommen unbekümmert umhertanzte.

»Mach dir nichts aus meiner guten Laune. Weißt du, es hätte nicht besser laufen können, wenn ich das Ganze selbst geplant hätte!«

Jaqueline stieß ein trillerndes Lachen aus, bei dem es Lea kalt über den Rücken lief. Lea musste die aufsteigenden Tränen niederkämpfen.

»Aber Püppchen, nicht weinen! Ich werde dir ja alles erzählen!«

Lea regte sich nicht.

Jaqueline lachte abermals, diesmal noch schriller. »Ich hatte mir gleich gedacht, dass es Probleme geben würde, als unser berühmter Friedenshüter plötzlich hier in Edinburgh auftauchte. Deshalb habe ich mich an ihn drangehängt im Whighams. Ich wollte eine Wanze an ihm anbringen, damit wir mithören können, was passiert, wenn er erfährt, dass Mary die Lösung gestohlen hat. Wir waren nicht sicher, ob er das schlucken würde. Und dann kamst du reingeplatzt und hast laut herumposaunt, dass Mary tot ist!«

»Sie haben mir die Wanze drangemacht!«, sagte Lea, der allmählich ein Licht aufging. »Und Sie haben auch diese Killer geschickt.«

»Allerdings, Menschenpüppchen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass du das noch weiter ausposaunst!« Sie warf lachend den Kopf in den Nacken. »Leider habe ich diese Aufgabe ein paar Menschen überlassen, anstatt es selbst zu tun. Diese idiotischen Beschützer des Lichts! Wenn sie nicht so gut zahlen würden, ich würde sie glatt alle umbringen.«

Zuerst Diana und jetzt Jaqueline ... wollte denn jeder ihren Tod? Lea konnte es einfach nicht begreifen. Warum nur? Warum musste das alles ausgerechnet ihr zustoßen?

»Ich habe niemandem was getan. Ich weiß nicht, warum ihr mir das antut.«

»Buhuu! Armes Baby!« Jaqueline ging vor Lea in die Hocke und schaute sie mit geheuchelter Besorgnis an. »Du solltest inzwischen wirklich begriffen haben, dass Menschen die geborenen Opfer sind.«

Mit einem hatte Jaqueline recht. Sie, Lea, hatte lange genug das Opfer gespielt. Viel zu lange. Nach dem Vorfall am Lochrin Place hatte sie es sich zum Lebensinhalt gemacht, Geistern zu helfen. Für etwas anderes war kaum Zeit geblieben. Zumindest hatte sie sich das eingeredet; aber das stimmte nicht. Sie hätte lebende Freunde haben können, eine Beziehung, hätte vielleicht sogar heiraten können.

Sie hatte sich selbst belogen, hatte Ausflüchte gemacht.

Weil Geister einem nicht wehtun können.

»Ich bin kein Opfer.«

»Ach, auf einmal so zornig! Du willst doch nicht etwa einen auf Buffy machen, Menschenpüppchen?«

Jaquelines lange Krallen fuhren blitzschnell vor und kratzten ihr die Wange auf. Lea schlug die Hand ans Gesicht und spürte, wie Blut ihre Wange herunterlief. Es brannte höllisch. Tränen traten in ihre Augen. Die Hand an der verletzten Wange, schaute Lea zu der Vampirfrau auf.

»Mm, das schmeckt gut.« Jaqueline leckte sich die Finger ab. »Aber mit dem Schlachten warten wir noch ein wenig, bis die anderen da sind!«

»He, aufwachen.« Cem schüttelte David Sands am Kragen.

»Aufwachen!«

Der Mann erwachte nach Luft ringend aus seiner Bewusstlosigkeit. Mit wilden Augen schaute er zu seinen Angreifern auf. »Nein, bitte nicht! Halten Sie mir den vom Leib!«

Cem folgte dem Blick des Wiesels zu Adam. Er schüttelte den Mann noch einmal. »Dann rede schon, oder ich lass ihn auf dich los.«

»O mein Gott, warum ich? Warum ich? Warum tut ihr mir das an? Ich hab doch nichts getan!« Dicke Tränen kullerten über Davids Wangen.

Adam hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, weil er diesen winselnden Feigling sonst umgebracht hätte.

Sie hatten ihn unter einem Vorwand aus dem Ballsaal gelockt, und dort hatte er ihn dann k.o. geschlagen.

Lea war verschwunden. Schon der Gedanke daran raubte ihm fast die Beherrschung.

»Wenn er uns nicht in den nächsten dreißig Sekunden alles sagt, was er weiß, dann reiße ich ihm die Kehle raus.«

David begann zu wimmern und kroch rückwärts auf dem Teppich, bis er an ein Sofa stieß. Sie hatten ihn hierher, in Cems Haus gebracht, weil sie ihn dort ungestört verhören konnten.

Adam war bereit, alles zu tun, um Lea wiederzufinden.

»Wo hat man sie hingebracht?« Cem hatte ihn erneut am Kragen gepackt und seinen Oberkörper vom Boden gerissen.

»Ich weiß nicht, ich schwör's! Ich weiß nicht, wovon ihr redet.«

»Deine Brüder haben Lea entführt!«, knurrte Adam.

»Und du sagst mir jetzt sofort, wohin!«

»Mein Gott, ich weiß es doch nicht! Ich weiß es nicht!«, wimmerte David.

»Er sagt die Wahrheit«, sagte Cem, der seine Gedanken las. Aber Adam genügte das nicht.

»Wer ist der Anführer der Beschützer des Lichts? Was habt ihr mit der Formel vor?«, fragte er bedrohlich ruhig.

»Ich weiß nicht!«, rief David wieder. » Ich weiß es doch nicht!«

»Er hat von der Formel gehört, und er weiß, wer der Anführer ist«, sagte Cem. Er starrte David finster an. Der Feigling hob schützend die Hände über den Kopf. »Du weißt, was wir mit dir tun, wenn du nicht auspackst, Sands, also rede schon.«

»Mein Gott!«

»Gott hilft sadistischen Mistkerlen wie dir nicht. Und jetzt rede!«, knurrte Cem und ließ seine Fangzähne hervorwachsen.

»Nein, bitte, ich sag's ja! Dianas Vater ist der Anführer.

Deshalb bin ich überhaupt nur Mitglied geworden. Aber ich weiß nichts über diese Formel, von der ihr redet.«

»Du lügst, Sands, du weißt von der Formel!«, brüllte Cem ihn an.

»Nein, ich schwöre es. Ich weiß nicht, was das ist. Ich habe nur gehört, wie es jemand erwähnt hat, ganz zufällig.

Ich hätte das gar nicht hören dürfen.«

»Wer?«

Adam, der es nicht länger aushielt, trat einen Schritt näher. Diana war tot, und das Kindermädchen war gleichzeitig eine Leibwächterin, die Dianas Vater angestellt hatte, um seinen Enkelsohn zu beschützen. Sie wusste nichts über die Beschützer des Lichts; blieb nur Sands. Er war ihre einzige Chance, Lea wiederzufinden.

»Er hat draußen gewartet, nach einem unserer Treffen im House of Light. Ich weiß nicht, wer er war. Er hat mit ein paar von den anderen geredet. Das ist alles, ich schwör's! Ich weiß nicht, wer er ist.«

Adam riss den Mann wütend von Cem weg, hob ihn hoch und drückte ihn gegen die Wand. »Du musst dir schon mehr Mühe geben, wenn du am Leben bleiben willst!«

David schaute nach unten, auf seine Füße, die mehrere Zentimeter über dem Boden baumelten. Sein Kopf sackte nach vorn.

»Verdammt!« Der Idiot war schon wieder ohnmächtig geworden! Adam ließ ihn wie einen nassen Sack fallen und wich einen Schritt zurück.

Cem trat vor. »Überlass ihn mir.«

»Wir müssen sie finden. Sie haben Lea!«, stieß Adam verzweifelt hervor. Er wusste, dass es seine Aufgabe als Friedenshüter war, immer und in allen Situationen die Ruhe zu bewahren, aber das war im Moment einfach unmöglich. Dass sie in Gefahr schwebte, war allein seine Schuld!

Seine verdammte Schuld! Er hätte nie zulassen dürfen, dass man sie benutzte. Er hätte sie beschützen müssen.

»Wenn ihr irgendwas zustößt...«

Cem packte ihn bei der Schulter. »Reiß dich zusammen, Adam! Schuldgefühle helfen uns jetzt auch nicht weiter.«

»Das ist er!«

David war, unbemerkt von den beiden, wieder aufgewacht. Er lehnte an einem Beistelltisch und hatte ein gerahmtes Foto in der Hand. Zitternd richtete er sich auf und hielt ihnen das Foto hin. »Das ist er!«

Cem nahm das Foto und drehte es langsam zu Adam hin. Es war ein Foto von Victorias Vampirkurs-Klasse. Nur ein einziger Mann war darunter. Ihr Lehrer. Sam.

Plötzlich fügten sich die Puzzleteile zusammen und ergaben ein Bild: der geheime Gang unter der Royal Mile.

Dass Colin erwähnt hatte, Sam habe ihn dazu überredet, den Club renovieren zu lassen ...

»Ruf William an. Sie sind im Club V.«

Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
titlepage.xhtml
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_000.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_001.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_002.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_003.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_004.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_005.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_006.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_007.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_008.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_009.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_010.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_011.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_012.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_013.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_014.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_015.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_016.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_017.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_018.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_019.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_020.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_021.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_022.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_023.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_024.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_025.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_026.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_027.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_028.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_029.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_030.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_031.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_032.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_033.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_034.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_035.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_036.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_037.htm